Improvisation und Perfektionismus

Was mich vor einiger Zeit zum Improvisationstheater gebracht hat, war eigentlich der Vorsatz einfach mal möglichst viele „verrückte“ Dinge zu tun, die ich vorher noch nie versucht habe. So viele Dinge wurden es letztendlich nicht – und so verrückt waren sie auch nicht, aber das Improvisationstheater ist geblieben, weil es sich für mich als unglaublich charmanter Freiraum entpuppt hat, meine Grenzen auszuloten und mich von jeder Art Perfektionismus zu lösen. Denn Perfektion und Fehlervermeidung ist – gerade beim Improtheater – schlicht unmöglich. Wie soll ich mich vorbereiten auf eine Situation, deren Parameter gänzlich unbekannt sind?

Das Scheitern wird im Improvisationstheater ja geradezu zelebriert! Der erste Workshop, den ich machte, hieß daher auch „Scheiter heiter mit Improvisationstheater“. Wunderbar! Genau das Richtige Gegengewicht für mich. Keine stundenlangen Vorbereitungen, kein Pauken von Texten, keine Perfektion. Im Gegenteil. Viele Übungen, die ich in dem Workshop (und auch in vielen folgenden) machen durfte, dienten allein dazu, den Kopf leer zu machen. Nicht denken! Nicht planen! Einfach machen!

Erste Alarmglocken meldeten sich natürlich sofort. „Und was ist, wenn ich auf der Bühne stehe und mir nichts einfällt?“ Tja, was soll dann sein? Dann lacht man – und alle anderen auch. Meistens sind das tatsächlich die witzigsten Momente – wenn man gerade völlig perplex ist, weil man auf eine Äußerung so gar nicht vorbereitet war, oder weil man vergessen hat, welche Rolle man hatte oder wie der andere hieß, oder oder…

Was das mit dem „echten Leben“ und der Arbeitswelt zu tun hat? Da muss man ja trotzdem perfekt sein, oder? Muss man das wirklich? Oft erwarten wir von uns, dass eine neue Aufgabe sofort perfekt ausgeführt wird, z.B. einen Vortrag vor 100 Menschen halten – obwohl man das noch nie vorher gemacht hat, einen Workshop in Englisch moderieren, eine neue (Führungs-)Rolle ausfüllen.

Die meisten machen sich immensen Druck, um bloß keinen Fehler zu machen. Aber wie wahrscheinlich ist das? Wie gut kann ich – ohne Übung und ohne zu scheitern! – eine neue Tätigkeit perfekt ausführen? Von einem Kind erwartet auch niemand, dass es direkt in ganzen fehlerfreien Sätzen kommuniziert. Gleichzeitig sind Kinder und ihre Art zu lernen ein wunderbares Beispiel. Beobachtet man Kinder z.B. beim Laufen lernen, stellt man fest, dass kaum ein Kind (ich habe auf jeden Fall noch nie eines gesehen) irgendwann einfach aufsteht und losläuft – ohne zu schwanken, sich festzuhalten oder umzufallen. Und wenn besagtes Kind fällt – nun, dann steht es wieder auf und übt weiter! Immer und immer wieder – solange bis es klappt. Und das Tollste daran? Es hat Spaß dabei! Die Faszination, dass eine neue Fertigkeit gerade erworben wurde, kann man ganz wunderbar in Kindergesichtern sehen. Irgendwann hört das auf. Warum eigentlich?

In vielen Übungen beim Improvisationstheater geht es genau darum: etwas immer wieder zu versuchen, dabei zu scheitern (sich ein bisschen zum Deppen zu machen) und irren Spaß zu haben. Und das ist immer wieder toll zu sehen. Außerdem steckt darin noch eine weitere Weisheit: So gelingt Lernen! Freudig, nicht verbissen. Wenn ich jedes Mal hart mit mir ins Gericht gehe, weil ich wieder einen Fehler gemacht habe, gerate ich in einen Zustand, der produktives Lernen unmöglich macht. Das Gehirn schaltet im schlechtesten Fall auf Stressprogramm „fight or flight“ und schließt damit komplexes Denken und Lernen aus.

Das soll nicht heißen, dass man völlig unvorbereitet einen Vortrag vor 100 Menschen halten oder einen Workshop in Englisch durchführen soll! Es soll lediglich der Perfektionismus hinterfragt werden und der Anspruch an sich selbst. Denn, wenn ich mir die Möglichkeit gebe, nachsichtiger mit mir selbst und meinem eigenen Scheitern umzugehen, kann das viel Druck aus dem Alltag nehmen. Das wiederum gibt mir die Möglichkeit aus meinen (vermeintlichen) Fehlern zu lernen. Und es beim nächsten Mal (noch) besser zu machen.